Publikumsliebling

"Könnten Sie bitte die Zigarette ausmachen?" Als ich den angetrunkenen Mann in der Leipziger S-Bahn um diesen Gefallen bat, war von seiner Marlboro schon nur noch knapp ein Viertel übrig. Doch seinen Stummel wollte er offenbar nicht kampflos aufgeben. "Sie sind die einzige, die sich hier an meiner Zigarette stört", meinte er lallend und erklärte mir mit wenig deutlicher Aussprache, warum es sein gutes Recht sei, hier zu rauchen.

In der Bahn war es inzwischen still geworden. "Uns stört es auch!", beteiligte sich ein Pärchen an unserem Zwiegespräch und ein Sitznachbar warf ein “Rauchen ist in der S-Bahn verboten!” Von der neuen Solidargemeinschaft abgeschreckt, suchte sich der Raucher direkt ein neues Argument. "Diese Ossis hier, alle Mitläufer!", wetterte er in stockender Betrunkenenlogik.

Während ich als Badenzerin darüber nur lachen konnte, sah das ein älterer Herr vom anderen Ende des Wagons anders. Mit hochrotem Kopf verteidigte er die Ehre von Erich Honecker und bekam dafür sogar etwas Applaus aus den hinteren Reihen. Gerade noch rechtzeitig fiel einem Bekannten des betrunkenen Rauchers ein, dass sie an der nächsten Station umsteigen mussten. Das Feindbild verließ die Bühne. Inzwischen war die Zigarette sowieso ausgegangen.

Kommentare

  1. ... ist schon ein paar Jahre her die Geschichte. Aber immernoch irgendwie aktuell.

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  2. Schön! Sehr alltäglich, zumindest das Rauchen, nicht das Gegenhalten ;-)

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  3. Hehe, manchmal, wenn mich das Verhalten von irgendwem ankotzt, dann wünsche ich mir, dass die Einstellung der anderen Menschen dazu leicht erkennbar wäre. Vielleicht so als Daumen hoch oder runter, der über den Köpfen schwebt. Dann wüsste man sofort, ob man mit dem Rückhalt der Masse was sagen kann, oder lieber die Fresse hält, weil man der einzige Nörgler wäre...

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    1. Och, manchmal lässt sich die Einstellung der Menschen doch auch ohne Like-Button ganz gut erkennen. Wenn sie alle demonstrativ wegschauen zum Beispiel... ;)

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  4. Wegschauen, ja... Samstag, kurz bevor ich in den Zug gestiegen bin, hab ich das erste Mal in meinem Leben den Notruf gewählt. Mitten in der Fußgängerzone haben sich welche mit Bierflaschen geprügelt, am Kopf blutend...
    Und die Menschen sind entweder schnell weg gegangen, oder haben mit ihren Handys gefilmt. Echt übel.

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